Interview Wenzel & Billy Bragg 2009

In Zusammenarbeit mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung und »Helle Panke« e.V.

»Love & Justice« – »Glaubt nie, was ich singe«

Folker!-Gespräch (Michael Kleff) mit Billy Bragg und Hans-Eckardt Wenzel über Künstleridentität in politisch bewegten Zeiten

Kleff: Mit »Love and Justice. Glaubt nie, was ich singe« ist das Folker!-Gespräch beim diesjährigen Festival Musik und Politik überschrieben. Seine Idee ist, dass wir uns unterhalten über die Identität von Künstlern in, wie wir es formuliert haben, politisch bewegten Zeiten. Und die Zeiten, in denen wir leben, sind ja sichtlich bewegt. Billy Bragg, Hans-Eckardt Wenzel – ich glaube, zu den Künstlern muss ich nicht viel sagen an dieser Stelle. Ich hab mir gedacht, dass wir damit beginnen, dass beide erst einmal von sich heraus versuchen, zu formulieren, wie sie sich selbst sehen, als Künstler ihrer Gesellschaft. Welche gesellschaftliche, welche politische Rolle sie als Künstler spielen.

Bragg: Ein Großteil meiner Arbeit in den letzten paar Jahren drehte sich darum, zu versuchen, in meinem Publikum Verständnis dafür wecken, welche Rolle ein Künstler im gesellschaftlichen Umfeld, im gesellschaftlichen Diskurs spielt. Diejenigen von uns, die sich noch an die 60er Jahre erinnern können, wissen, dass in dieser Zeit die populäre Jugendkultur, die populäre Musik eine große Kraft beim Transport der Botschaft einer neuen Generation war. Das besaß eine große Potenz für diese Generation und war die einzige Chance, die sie hatte, um voranzukommen. Jetzt haben sich die Dinge natürlich drastisch geändert. Die neue Generation hat sehr viele Ventile, und in dieser Hinsicht ist der Fokus, hat sich die Stoßrichtung eines Liedermachers als Sprecher oder Sprecherin einer Generation etwas geändert. Die Idee, dass man irgendwie die Welt verändern kann, indem man Lieder singt, hat sich in meiner Erfahrung nicht hergestellt. Aber ich kann sagen, dass Musik eine Veränderung in meinem Leben herbeigeführt hat. Die erste politische Aktivität, an der ich teilgenommen habe, war 1978. Als Teil der ersten großen Massendemonstration von »Rock against racism«. Ich war damals ein großer Clash-Fan, die der Hauptact bei diesem Ereignis waren. Ich spürte, auch so werden zu wollen. Zu der Zeit arbeitet ich in einem Londoner Büro, war 19 Jahre alt, meine Kollegen etwas älter als ich. Und deren Sprache war geprägt von so einem gleichgültigen Rassismus, Sexismus und von Homophobie. Und ich wusste: was sie sagten, wie sie sprachen, das war falsch! Ich war der Jüngste in dem ganzen Büro und spürte in der Minderheit zu sein. Ich traute mich nicht, was gegen die zu sagen. Und habe es praktisch geduldet, was die da für verbale Entgleisungen brachten. Dann bin ich zu diesem Marsch gegangen. »Rock against racism«, diesem antirassistischen Marsch. Wir marschierten

durch die Straßen von London und als wir im Park ankamen, wo das Konzert stattfand, waren in diesem hunderttausend junge Leute, die genauso drauf waren wie ich. Dort begriff ich es erstmals. Dass dieses Thema – Diskriminierung im weitesten Sinne – dasjenige sein wird, worüber meine Generation ihren Standpunkt erarbeiten muss. Die Generation davor hatte den Vietnam-Krieg als Entzündungspunkt und davor den gegen Atomwaffen. Aber diese Themen – Antirassismus, Antidiskriminierung, Minderheitenschutz und Solidarität mit unterdrückten Bevölkerungsgruppen – würde unsere Generation definieren.
Als das Konzert zu Ende war, fuhr ich zu meiner Mutter nach Hause, die mir dasselbe Sonntagsabendessen machte wie immer: Leber mit Speck. Die Welt hatte sich nicht geändert, sie war dieselbe wie vor dem Marsch. Was sich geändert hatte, war meine Wahrnehmung der Welt. Wenn es diesen Tag nicht gegeben hätte, wäre ich heute nicht hier und könnte nicht zu Ihnen sprechen heute Nachmittag. Und als ich dann am Montag Morgen wieder in mein Büro ging, da wusste ich, dass ich nicht in der Minderheit bin. Und ich wusste, wodurch ich mich von meinen Arbeitskollegen unterschied. Und ich sah die Generationslücke. Seit diesem Tag versuche ich, dieser Idee gerecht zu werden und sie mit Leben zu füllen, die an diesem Tag, in diesem Park, Gestalt angenommen hatte. Ich weiß heute zwar, dass Musik die Welt nicht verändern kann. Aber sie vermag die Wahrnehmung von ihr zu verändern. Daran denke ich
jeden Abend, wenn ich auf die Bühne rausgehe. Dass ich die Wahrnehmung von irgendjemand im Publikum ändern kann und bestenfalls Werkzeuge mitliefere, um Argumente zu entwickeln. Ich besitze die Fähigkeit, das zu tun. Wenn man sich entscheidet, diese Rolle anzunehmen, dann muss man sie auch ausfüllen. Man kommt zu dem Konzert, stellt sich vor andere, die an denselben Aktivitäten teilhaben, an denen man selber teilhat,
und kann deren Batterien wieder aufladen. Das ist die Erfahrung und Grundlage meiner Arbeit.

Kleff: Vielen Dank Billy. Ohne langen Zwischenkommentar: Hans-Eckardt?

Wenzel: Ich glaube, das was Billy angesprochen hat, ist ein zentraler Punkt, den man, wenn man sich die Geschichte der Poesie oder des Liedes anschaut, immer wieder findet: dass man in der Lage ist, eine Gemeinschaft zu stiften, und diese gegen die herrschende stellt. Ich habe in der DDR gearbeitet und arbeite jetzt in der Bundesrepublik. Es gibt sehr viele Unterschiede. Was allerdings gleich ist, was ich empfunden habe als Gleiches, ist, dass man in einem Konzert die Möglichkeit hat, eine utopische Gesellschaft mit den Leuten zu konstituieren und ihnen das Gefühl geben kann, dass sie nicht allein sind in ihrer Wahrnehmung. Und das passiert darüber, dass man einen Moment das Ideologische in den Köpfen, oder das falsche Bewusstsein, die falsche Wahrnehmung zerstört oder ins Absurde führt. Und zeigt, dass diese Ordnung, die in unserem Kopf ist, uns daran hindert, den Gemeinsinn – oder etwas Gemeinsames – zu organisieren. Das ist auch in der DDR so gewesen. Dass ich das Gefühl hatte, ich spreche etwas aus, was es in der Öffentlichkeit nicht gibt. Und jeder der Zuhörer, der da war, dachte, er denkt es allein. Und indem auf einmal einer an der gleichen Stelle wie der andere lachte oder applaudierte, hatten sie das Gefühl, dass sie dieser Einsamkeit entkommen – ein Stück Zueinanderrücken. Nichts ist so
schlimm wie Einsamkeit in der Geschichte. Und die Musik ist das einzige Medium in der Welt, das uns in unserem zeitlichen Ablauf gegenüber der Ewigkeit begleitet. Die Musik hat die Chance, diese Einsamkeit unglaublich taktil und körperlich herzustellen. Das klingt jetzt sehr abstrakt. In den zwanziger Jahren hätte man in Deutschland anders über das Verhältnis von Politik und Sängern und Gesellschaft geredet. Aber wir leben in so einer postmodernen, metaphysischen Gesellschaft, wo wir es scheinbar bloß noch so definieren können. Alles andere hat eine gewisse Art von Plumpheit, weil: das Politische als Begriff natürlich
subsumiert ist von den politischen Parteien, von politischen Richtungen. Aber das ist nicht
das, worum es bei Kunst und Politik geht. Da geht es immer um den Entwurf einer Gerechtigkeit und dass man den Zustand als unaushaltbar beschreibt, auf Kosten anderer zu leben oder ein Unrecht zu akzeptieren in dieser Welt. Und diese Unaushaltbarkeit entfesselt in mir einen Zorn, den ich umsetzen, in eine Form bringen muss, um den Leuten das nahe zu bringen.
Ich habe im vorigen Sommer ein interessantes Konzert in der Türkei im kurdischen Gebiet
gespielt. Einem Gebiet, das noch mal mehr besetzt ist als die Türkei selbst, man noch ein Visum braucht, um dort hineinzukommen. Es ist ein riesengroßes Festival. Hunderttausend Leute. Und ich hatte dort ein unglaublich archaisches Gefühl, was Musik, was ein Lied für ein Lebensmittel sein kann. Ich bin sehr ins Zweifeln gekommen und dachte: Das, was wir hier machen, ist mehr oder weniger doch ein Zeitvertreib für reiche Leute, die sich letzten Endes in der Ewigkeit ein klein wenig langweilen. Aber dieses Archaische – als ich das sah, wusste ich, es ist Ursprung. Es ist bloß verdeckt. Bedeutet konkret: Dass wir uns gegen das, was wir jetzt Globalisierung nennen, gegen jegliche Gleichmacherei des Marktes zur Wehr setzen müssen. Dass wir um unsere Individualität kämpfen müssen – sowohl künstlerisch gegen
den Mainstream als auch individuell. Wie wir empfinden, wie wir lieben, was wir schön finden: das ist ein Kampf gegen die Maschinerie eines unglaublich aggressiven Marktes, der alles gleich machen, zu Effizienz und in Geld verwandeln will. Diesem sich zu widersetzen ist, glaube ich, in dieser globalisierten Welt eine unglaubliche Aufgabe für eine politische Kunst.

Kleff: Ich sehe in den Dingen, die Ihr sagtet, durchaus verbindende Aspekte. Musik an sich ist
es nicht. Der Song an sich ist es nicht, der die Welt verändert. Es ist mehr eine Vermittlerfunktion des Künstlers auf der Bühne, der etwas rüberbringt, was beim Publikum etwas in Gang setzt. Billy hat in seinen Ausführungen von Bewegungen gesprochen. Wie wichtig eine politische Bewegung in einer jeweils historischen Phase ist, um einem Künstler eine bestimmte Rolle zuzuschreiben. Nehmen wir Phil Ochs als Beispiel aus den USA in Zusammenhang mit der Vietnamkriegsbewegung. Da hat man den Eindruck, als hätten die
sich gegenseitig bedingt: die Vietnamkriegsbewegung brauchte einen Künstler wie Phil Ochs, der ihre Stimme war, der sozusagen gebündelt ihre Ansicht zum Krieg vorgetragen hat. Andererseits brauchte Phil Ochs die Bewegung, weil ohne die Bewegung wären seine Lieder nirgendwo untergekommen. Wie ist das Verhältnis von politischer Bewegung, Künstler und Musik? Haben wir heute überhaupt eine Bewegung?

Bragg: Phil Ochs schrieb einen klasse Antivietnamkriegssong: »Ich marschiere nicht mehr«.
Darin hat er die Haltung junger Amerikaner beschrieben gegenüber der Einberufung. Junge
Amerikaner widerstanden dem Vietnamkrieg natürlich nicht, weil Phil Ochs einen Song
geschrieben hatte. Phil Ochs schrieb einen Song darüber, dass Leute sich nicht einziehen lassen wollen. Man kann politische Musik nicht in einem Vakuum erzeugen. Der Kontext für politische Musik ist alles in dieser Frage. Man muss in der Lage sein, als Schreiber, als Textautor, man muss gewiss sein und Zuversicht haben, dass man Songs schreibt, welche die Leute etwas angehen. Nicht unbedingt in einer positiven Richtung. Sondern dass man sich an einer Debatte, an einem Diskurs beteiligt, der in der Gesellschaft schon abläuft. Selber als politischer Künstler eine Debatte vom Zaun zu brechen, ist schwierig. Das Album vor meinem jetzigen hieß »England halb englisch«. Es ist 2001 erschienen. Darin begann ich über Dinge, wie zum Beispiel die Politik der Identität, zu schreiben. Ich bin ja ein glühender Internationalist. Beim Schreiben dachte ich stark daran, dass, um dem Wiederauferstehen der extremen Rechten zu widerstehen – besonders der British National Party, der BNP -, dass man dann dieses Thema bedenken muss. Um eine Debatte über eine Gesellschaft anzustoßen, die alle einschließt. Wie wäre es in einer solchen Gesellschaft zu leben? Traditionell haben wir auf der Linken immer gesagt: Nationalismus jeglicher Couleur ist abzulehnen. In Großbritannien erzeugte das ein Vakuum. Ein Leichtes für die extreme Rechte dieses Vakuum zu besetzen. Durch unsere Ablehnung, uns an dieser Debatte zu beteiligen, haben wir den Faschisten den Weg bereitet, zu definieren, wer zur britischen Gesellschaft gehört und wer nicht. Diese Idee stand freilich im Gegensatz zu dem, was ich davor in den 80ern und 90ern
gemacht, was mich definierte. Und als ich zum ersten Mal diese Songs spielte, sagten linke Freunde zu mir, dass sie raus gegangen sind. Das sei ja wohl ziemlich ironisch! Und ich musste erwidern: Hey, ich bin nicht ironisch oder zynisch. Ich liebe mein Land. Ich bin Patriot, denn ich bin Sozialist.
Und wenn ich mir mein Land anschaue und sehe, dass selbiges es nicht schafft, sich um all seine Bewohner zu kümmern, wenn ich sehe, dass mein Land es nicht vermag, alle Immigranten herzlich aufzunehmen, wenn ich sehe, dass mein Land seine Verpflichtungen nicht einlöst, werde ich wütend. So fing ich an durch Songs, durch Gespräche mit dem Publikum einen Denkprozess loszutreten, was es heißt, Bürger von England, von Großbritannien zu sein. Da musste man behutsam vorgehen. Ich sah mich einer Situation gegenübergestellt, in der ich eine Menge Leute, zum Beispiel in meiner Geburtsstadt, die Faschisten wählen sah. Weiße Arbeiterschaft mit minderer Qualifikation, traditionelle Labour-Party-Wähler. Die sind direkt übergelaufen zur faschistischen Partei, der British National Party. Die machten nicht erst noch den Umweg über die Konservativen, die Liberalen. Nein. Sie sind von einem zum anderen übergegangen. Dem kann man sich nicht nur entgegenstemmen, indem man sagt: Ihr seid blöd. Oder: Ihr seid nicht richtig drauf. Sondern man muss sie dazu bringen, dass sie ein besseres Verständnis entwickeln. Die wirtschaftliche globale Situation hat sie praktisch alleine gelassen, und sie haben das Gefühl: niemand steht für sie auf und verteidigt sie in der Politik. Außer die extremen Rechten, die natürlich einfach nur ihre ganz ehrlichen und echten Befürchtungen ausnutzen. Zugang zur freien Gesundheitsversorgung, zur freien Bildung. Es sind wirkliche, echte Ängste, dass das alles den Bach runtergeht. Und die Faschisten kommen und nehmen diese Befürchtungen. Wir müssen uns in diese Gespräche einklinken! Wir müssen eine neue Sprache finden, um an die überhaupt ranzukommen. Irgend jemand muss eine neue Sprache erfinden, um sich dieser Probleme richtig und verständlich anzunehmen. Warum nicht die Poeten? Warum nicht die Künstler? Warum nicht die Liedermacher?

Kleff: Da würde mich jetzt – Frage an Wenzel – einmal interessieren, inwieweit die Frage nach Nation, Heimat und deutsche Identität für Dich eine Rolle spielen. Und der zweite Aspekt: Billy hat gesagt, man kann politische Songs, politische Musik nicht in einem luftleeren Raum machen, also ohne den Zusammenhang. Du giltst ja nun als der große Poet, der Liedermacher in diesem Lande. Mir fällt auf, dass doch zunehmend auch Songs in deinem Repertoire auftauchen, die sich sehr konkret auf aktuelle politische Debatten beziehen. Ist da auch bei Dir eine Veränderung festzustellen, dass die Verhältnisse, in denen Du lebst, Dich mehr in den Griff nehmen, dass Du Dich mehr mit ihnen auseinandersetzen musst?

Wenzel: Vielleicht zur zweiten Frage zuerst. Die Unverschämtheit des Neoliberalismus hat in den letzen drei, vier Jahren so zugenommen, dass es das Maß meiner Toleranzfähigkeit überschritten hat. Ich kann das nicht mehr akzeptieren. Das verstößt sozusagen gegen meinen guten Geschmack. Poetisch muss ich dagegen vorgehen. Der Zorn überwältigt mich. Das darf man als Künstler nicht zulassen. Ich kann davor die Augen nicht verschließen. Dass wir nach dem Zusammenbruch des »Realen Sozialismus« – das ist jetzt zwanzig Jahre her – so eine Hybris des Kapitalismus erleben, der in keiner Weise mehr in der Lage ist, sich zu kritisieren
oder sich kritisieren zu lassen. Der Spruch »Marx ist tot und Jesus lebt!« ist in den letzten
Jahren umgedreht worden, indem »Das Kapital« wieder in den Buchläden liegt. Wo auf einmal plötzlich eine Notwendigkeit entsteht, wieder wirklich analytisch in die Gesellschaft hineinzuschauen. Dass dieses dumpfe Gefühl der Überlegenheit und des Reichen nicht mehr aufgeht. Und das ist natürlich etwas, was die Gesellschaft radikalisiert. Das ist für deutsche Verhältnisse, anders als bei Billy, natürlich etwas Neues. Wir hatten immer eine gewisse gedämpfte und gesättigte Situation in Deutschland. Deutschland war immer ein sehr reiches Land. Die Widersprüche waren immer auch befriedet. Sie sind lange nicht so aufeinander geprallt. Deswegen war die poetische Sprache auch nicht so scharf. Die Musik war auch nicht so bissig, alles hatte eine gewisse, ja, Vermitteltheit, will ich mal sagen.

Kleff: Punk hätte in Deutschland nicht entstehen können?

Wenzel: Punk ist entstanden. Aber deutscher Punk, in dem die Hölle nicht so sichtbar ist. Es ist immer ein wenig schicker und kultivierter. Man hat immer noch Goethe (Lachen im Publikum), um sich zu trösten. Das beginnt jetzt zu bröckeln, weil die Globalisierung die dritte Welt nach Deutschland gebracht hat. Wir fallen sozusagen jetzt auf die wirkliche Realität. Und dafür müssen wir unsere gesamten Instrumente, unser Bewusstsein schärfen. Damit müssen wir lernen umzugehen. Wir müssen lernen, der Armut zu begegnen, mit Katastrophen umgehen, die auf uns hereinkommen, ohne zu versagen. Sowohl als Künstler als
auch als Menschen. Das ist etwas, was, wie ich glaube, in den nächsten Jahren schlecht für das soziale Klima sein wird, aber gut für das politische Lied. Ich spüre das in den Konzerten seit circa einem dreiviertel Jahr. Das ist ungewöhnlich für Deutschland und habe ich bislang nur in Wendenähe erlebt. Dass die Leute sehr intensiv denken in den Konzerten. Es beginnt etwas. Die Suche beginnt wieder. Das ist das Interessante: Das Lied ist eine ganz kleine Form, die man sehr schnell, wenn die Situation günstig ist, herstellen kann. Und diese kleine, fast partisanenhafte Form hat die Möglichkeit, in bestimmten politischen Verhältnissen ganz schnell zu agieren. Und kann ganz schnell gelernt werden von anderen. Der Refrain kann übernommen werden, kann eine Losung sein, die man denkt. Das ist eine Chance, die das
Lied zu allen Zeiten hatte. Und es beweist immer dort seine Größe, wo es ganz dringend gebraucht wird. Es würde dauern, einen Roman zu schreiben über eine Situation. Das braucht zwei Jahre. Aber ein Lied kann, wenn die Nacht günstig ist, in einer entstehen. Und am nächsten Tag können es die Leute haben. Und es kann ein Mann alleine machen, mit seiner Gitarre, mit seinem Klavier. Es braucht keine große Institution. Gerade in Zeiten, da jeder ein digitales Studio zu Hause hat und alle sich tot produzieren und tot editieren, gibt es auf einmal ein ganz großes Bedürfnis nach dieser ganz klaren Form. Dass sich einer hinstellt mit der Gitarre und etwas singt. Und vor allem etwas sagen will und sein Herz dabei blüht. Er damit die Leute aus ihrer Lethargie reißt, um nachzudenken. Das halte ich für eine große Chance.

Kleff: Vielleicht nachgefragt eben die Frage nach Identität, Heimat …?

Wenzel: Ich meine, wir Deutschen haben ein besonders schwieriges Verhältnis zu unserer eigenen Tradition. Die zwölf Jahre des deutschen Faschismus haben es den Linken immer schwer gemacht, sich in der deutschen Tradition zu behaupten. Für mich war das immer eine meiner größten Kraftquellen. Ich weiß, dass man auf dem internationalen Markt den Anstrich des Provinziellen trägt, bleibt man der deutschen Sprache treu. Aber sie ist meine Sprache. Ich liebe ihre Tradition. Und fühle mich in einer von Schubert und Brecht. Das ist meine Herkunft. Ich weiß, dass ich nur darin etwas formulieren kann, was wirklich etwas ist. Wo sich auch die verschrobenen Bedenken meiner Nation aufgehoben fühlen. Immer diese kleine Sehnsucht, woanders sein zu wollen, nur nicht hier, und trotzdem hier zu bleiben: das sind die Deutschen. Das ist in der deutschen Poesie aufgehoben. Auch und gerade mit diesen Widersprüchen umzugehen. Und ich halte das Nationale, zunehmend auch unter dem Aspekt der Globalisierung, für einen ganz wichtigen Impuls, Identität zu stiften. Und das darf man keinen Leuten überlassen, die entweder damit nur Geld verdienen, oder die eigentlich nur Mehrheiten erzeugen wollen jenseits von parlamentarischen Ordnungen.

Kleff: Damit sind wir bei der Frage, die Billy aufgeworfen hat: neue Sprache. Wie lässt sich
verhindern, dass die politische Rechte diese Begrifflichkeiten wie Nation und nationale Identität für sich beansprucht und dieses Feld einfach besetzt? Wie kann man sich einer neuen Sprache annähern?

Bragg. Ich denke, man muss zunächst einmal realisieren, dass die alten Gewissheiten langsam aus der Mode kommen. Wenn man etwa das Beispiel der nationalen Identität nimmt. Nationale Politik muss nicht notwendigerweise negativ sein. Es gibt Länder auf der Welt, wo die Befreiungskräfte zunächst einmal fundamentalistisch, nationalistisch waren. In Nicaragua zum Beispiel, auch in Kuba. Und in Großbritannien haben wir, wie ich sagte, diese faschistische, rassistische Partei, die von einem Holocaust-Leugner geführt wird, die BNP. Welche in England Sitze durch Wähler erobert hat, die damit gegen Labour protestieren
wollten. Im schottischen Parlament gibt es eine schottische nationale Partei, die aber links von der Labour-Party angesiedelt ist. Was nicht schwierig ist heutzutage, aber immerhin. Wo ist also der Unterschied zwischen der schottischen nationalistischen SNP und der englischen BNP? Wie kann es sein, dass die eine faschistisch-rassistisch ist und die andere eher links-zentristisch? Ein gutes Beispiel, oder? Vielleicht sehe ich es auch nur noch nicht ganz klar. Ich beobachte die Dinge. Was mir beispielsweise beim letzten Fußball-Europa-Cup auffiel: Die deutschen Fans zögerten ziemlich, die deutsche Fahne zu schwenken. Sie wussten, welche negativen Konnotationen mit dieser Fahne verbunden sind. Sie warteten, bis die deutsche Mannschaft aufgestiegen war, es geschafft hatte ins Viertelfinale, ins Halbfinale.
Das konnten dann alle akzeptieren und im Kontext der Europameisterschaften ist das okay. Alle andern haben ja auch ihre Nationalflaggen mit und ihr habt eben auch eure Fahne. Es ist nicht per se etwas Negatives. Am Ende geht es immer darum, wie und in welchem Kontext, Ideen oder Symbolik zum Einsatz kommen. Nationalgefühl kann eine progressive Kraft sein. Wenn wir etwas gegen die faschistische Rechte setzen wollen – die immer stärker wird, wie wir wissen – dann müssen wir natürlich über diese Ideen und Konzepte einer alle einschließenden Gesellschaft mehr nachdenken. Letztendlich geht es nicht um Blut und Boden. Und es geht auch nicht darum, woher die Großeltern kommen .sondern es geht darum, wo man ist! Es geht um den Ort, nicht um Rasse. Ich bin vielleicht jetzt etwas abstrakt, wenn ich sage: England heißt Dazugehören! Es geht nicht um große Schlagwörter wie nationale Identität. Sondern das Gefühl, dazu und dorthin zu gehören. Wenn man an einem anderen Ort geboren wurde, dann fällt es schwer, sich zugehörig zu fühlen. Ich habe einen Freund, der Eltern aus Jamaika hat. Der in England geboren ist. Er tut sich schwer damit, englisch oder britisch sein zu müssen. Er ist Londoner, das ist klar. Und er ist Europäer. Er ist hier
geboren, er muss spüren, dass er ein Zugehörigkeitsgefühl entwickeln kann. Und darum muss es uns gehen. Nicht um eine Situation, wo jeder der Fahne den Ehrengruß erweist oder einen Treueeid schwört. Man muss bei sich selbst anfangen. An dem Ort, an dem man lebt. Ein Gemeinschafts-, ein Zugehörigkeitsgefühl muss man entwickeln. Und das ist die Art von Ideen, worüber wir sprechen sollten. Bevor wir diese neue Sprache überhaupt haben können, müssen wir untersuchen, wie wir über diese Aspekte denken. Das sind alles Dinge, die wir so lange abgelehnt haben. Die Faschisten, die kennen die Landschaft längst. Das ist genau ihr Hinterhof, in dem sie sich tummeln. Die kennen jeden Zoll dort. Wir müssen erstmal eine Kartierung vornehmen. Wir müssen dieser Landschaft unsere Namen geben. Wir sind die
erste Generation, die in der Lage sein könnte, die Idee einer sozialistischen Gesellschaft zu schaffen, die nicht von Stalinismus oder von Totalitarismus überschattet ist. Wir haben diese große Möglichkeit. Das heißt, wenn es uns gelingt. Wir können von viel breiter gefassten Ideen, wie zum Beispiel Mitgefühl, ausgehen. Wenn ich mit meinem Publikum über Mitgefühl spreche oder Verantwortungsbewusstsein – diese Dinge kommen an.
Da bekomme ich ein Echo. Ich rede dabei nicht in ideologischen Verklausulierungen, überhaupt nicht mehr. Da sind wir im Augenblick. In der Erforschung dieser Landschaft.

Kleff: Wobei ein Begriff wie Compassion natürlich auch mit Inhalt gefüllt werden muss, denn den hat ja zum Beispiel auch ein Präsident Bush leidenschaftlich benutzt: compassional conservatism. Auch hier muss die Definitionsgewalt wiedererlangt werden.

Bragg: Das ist ein Oxymoron von der schrecklichsten Sorte. Genau diese Begriffe, wie Bush sie gebraucht: »Demokratischer Kapitalismus«. Das sind Begriffspaare, die kann man einfach nicht zusammenbringen: »Militärische Intelligenz« (Lachen im Saal) oder noch schlimmer: »Amerikanischer Fußball« (noch lauteres Lachen).

Kleff: Wenzel, wenn Billy Bragg davon spricht, dass ideologische Begrifflichkeiten wie Sozialismus, die Botschaft einer Utopie, einer neuen Gesellschaft, nicht mehr tragen, was kann man da tun?

Wenzel: Ich glaube, man kann keine Sprache künstlich entwickeln. Das ist ja in Deutschland schon mehrfach fehlgeschlagen. Dass eine Rechtschreibreform durchgeführt wurde. Beamte können das nicht. Sprache ist ein Reflex auf Realität. Das, was Billy beschrieben hat, ist natürlich das Dilemma des linken Denkens, das sich noch aus dem Vokabular des 19. Jahrhunderts speist. Aus einem früh-kapitalistischen Reflex, den Marx beschrieben hat, als die Verhältnisse sich abzeichneten, wie sie dann das ganze 20. Jahrhundert den Kapitalismus bestimmten. Man blieb diesem Vokabular verhaftet und die Worte sind von allen möglichen Leuten benutzt worden. Von den Stalinisten, von den Trotzkisten. Sie sind quasi durchlöchert und ausgehöhlt. Sie besitzen keine Vitalität und keine Sinnlichkeit mehr. Die Worte sind reine Hülsen, die man voll füllen kann, mit welchen Vorstellungen auch immer. Und das ist das Problem. Wenn uns die Begriffe, also die Griffe, mit denen wir die Dinge anfassen können, verloren gehen, dann gelingt es uns nicht mehr, die Wirklichkeit zu bewegen. Dann müssen wir suchen.
Das, was Billy beschreibt, interessiert mich seit einiger Zeit. Ich beschäftige mich mit den frühen protestantischen Literaturen. Mit Paul Gerhard. Es gibt im aufgeklärten Christentum eine Form, wo Vernunft auf einmal einen Platz hat. In scheinbar eigenartig religiösen Zusammenhängen. Und wir leben in einem Zeitalter, wo der Fundamentalismus, auch der religiöse, eine sehr große Kraft geworden ist. Wenn man nun darüber nachdenkt, Modelle zu
entwickeln für diese Gesellschaft, muss man diese Denkmechanismen zumindest akzeptieren. Man muss darüber nachdenken. Was ist das für ein Begriff: Gerechtigkeit? Wie kann ich das definieren? Wie gehe ich mit Verzweiflung, mit Zerstörung in meiner Welt um? Wie kann ich dieser Gesellschaft trotzen? Für das Lied gibt es immer nur zwei Möglichkeiten zu reagieren: entweder man widerspricht den Verhältnissen oder man tröstet diejenigen, die unter den Verhältnissen nicht leben können. Es gibt nur diese zwei Möglichkeiten. Das ist ein altes Modell: Paul Gerhard. Eine andere Möglichkeit haben wir auch nicht. Wo ist der Protest, das Aufstacheln, das Stärkere? Und wo ist manchmal das nur Bestärken, das Trösten, damit der, welcher dadurch protestieren soll, bekräftigt wird? Das müssen wir finden.
Und das andere, das Nationale, oder wie immer wir das definieren wollen, ist eigentlich nur ein Begriff für Geschichte. Wir leben in einer Zeit, wo wir durch das Internet unserer zeitlichen und räumlichen Existenz Stück um Stück beraubt werden. Wir leben in einem Niemandsland. Wir sind in der Sekunde an jedem Ort der Welt und sind doch nicht da. Sind in jeder Zeit und doch nicht da. Und das, was uns stärkt in dieser Geschichtslosigkeit, ist die
Möglichkeit, in der Zeit auszuholen und geschichtlich zu denken oder uns geschichtlich zu definieren. Und das ist der Begriff der Nation. Das ist es letzten Endes sprachlich und kulturell. Das ist das, was Billy beschrieben hat. Wo komme ich her, was hat mich definiert? Warum bin ich so? Wie ist das so geworden? Und wenn ich diese Zusammenhänge verliere, dann verliere ich meine Wurzeln in der Welt. Und deswegen ist das, was wir unter dem komischen Abstraktum Nation oder Nationalität beschreiben, ein lebensnotwendiger Punkt für uns. Und dass die Linke das aufgegeben hat, ist auch genau ihr Problem gewesen. In den zwanziger, dreißiger Jahren waren das sozialfaschistische Spektrum in der SA und das linke in der KPD nicht so weit auseinander. Diese Ähnlichkeiten gibt es immer in der Geschichte. Der Liberalismus ist zu anstrengend, die Demokratie. Man versucht andere Modelle zu finden, in denen man die Lösung schneller herstellt. Und darauf muss man sich einstellen, das
wird in der nächsten Zeit passieren. Das wird sich ändern. Der Mittelstand in Deutschland ist in Gefahr, und wenn der Mittelstand in Gefahr ist, befindet man sich schon inmitten einer sehr gefährlichen Situation.

Kleff: Gehen wir jetzt mal in einen praktischen Bereich künstlerischen, politischen Handelns. Die nächste Bundestagswahl steht an und ich überlege gerade mal, ob Heinz Rudolf Kunze, Wenzel und wie sie alle heißen auf die Bühne gehen für Herrn Steinmeier und Co. (Lachen im Saal). Wenn ich das jetzt mal vergleiche mit der Ausstrahlung von Obama. Was kann ein Künstler da eigentlich tun? Da herrscht doch Ratlosigkeit, nicht? Wie verhält man sich zur parteipolitischen Realität in dieser Republik? Insofern die Frage an Wenzel mit Blick auf
diesen Termin im September: Was kann, was soll man machen und wie verhält man sich zu Wahlen, die ja eigentlich ein ganz wichtiger Punkt im Leben einer Demokratie sind? Im Anschluss kann ja Billy vielleicht auch ein bisschen was sagen zu England und wie sich dort die Künstler verhalten?

Wenzel. Ich glaube, erstmal muss man die Sache von zwei Seiten sehn. Die deutschen Politiker interessieren sich überhaupt nicht für Kunst und Kultur. Das sind Banausen. Ganz einfach. Die kennen auch nur die zwanzig Leute, die im Fernsehen jeden Tag auftreten. Davon muss man ausgehen. Die interessiert das gar nicht, ob da irgendein Künstler irgend
eine Meinung hat. Das ist erstmal ein Vorteil für die Künstler (Lachen im Saal). Das andere ist: ich glaube, dass sich, wenn sich politische Kräfte oder Personen zeigen, die ein wirkliches Konzept haben, würde sich sehr schnell eine Gesellschaft von Künstlern gründen, die diese unterstützen. Jetzt ist es meistens so, dass die, welche so etwas unterstützen, sich einen kommerziellen Erfolg davon versprechen und denken, wenn die dann gewonnen haben,
komme ich ins Fernsehen. Es hat sehr viel Berechnung in der deutschen Politik-Lied-Szene gegeben in den letzten Jahren. Sobald das politische Thema wieder groß wird, definieren sich die Leute, die vor drei, vier Jahren darüber gelacht haben, dass sich einer engagiert, auf einmal alle politisch. Herr Kunze nennt sein Album auch »Protest«. Immerhin! Die Situation in Deutschland ist nicht so, dass sich etwas abzeichnet. Die Politik, so wie wir sie im Moment
erleben, entscheidet nichts. Sie vollführen eigentlich Prozesse, welche die Wirtschaft vorgibt, die international definiert werden. Sie sind eigentlich nur in der Lage, Dinge zu beschönigen oder etwas mehr aushaltbar zu machen. Und in dem Sinne interessieren sie mich nicht. Mich interessieren Subjekte, welche die Gesellschaft bewegen, die entweder unter der Gesellschaft leiden oder die Gesellschaft verändern.

Kleff: Da will ich nachfragen. Du hast jetzt über dein Verhältnis als Musiker zu Politik und Parteien geredet. Wie ist denn dann das Verhältnis in einem Wahlkampf zu den Wählern? Die dann im September an die Wahlurne gehen? Was ist da die Botschaft, was kannst du da den Menschen sagen?

Wenzel: Ich geb da keine Botschaft …

Kleff: … ich meine jetzt nicht in dem Sinne: wählt diese oder jene Partei.So war das jetzt gar nicht gemeint.

Wenzel: Wenn ich ganz ehrlich bin, interessiert es mich nicht.

Kleff: Okay. Klare Antwort.

Bragg: In den 80er Jahren, vor 25 Jahren ungefähr, gab es den Streik der nationalen Bergarbeitergewerkschaft, der etwa ein Jahr andauerte. Es war ein titanischer Zusammenprall zwischen der organisierten Arbeiterbewegung und Margaret Thatcher und ihrer Tory-Regierung. Am Ende wurden die Bergarbeiter besiegt, und das gab Margaret Thatcher die Macht, die nächste Wahl zu gewinnen. Und sie konnte etwas tun, was wir als den Urknall bezeichnen können; nämlich die völlige Deregulierung der Londoner Börse. Das heißt, alle Sicherheitsmechanismen, die an der Börse bis dahin galten, wurden außer Kraft gesetzt, und es konnte dort Geld gemacht werden mit Derivaten und Hedgefonds. Was uns nun in die Scheiße gebracht hat, in der wir stecken. Der britische Bergarbeiterstreik war also ein Schlüsselereignis dafür, wie die Welt nun geworden ist. Die Deregulierung hat dann auf ganz Europa übergegriffen. Selbst in Frankfurt und in New York an den Börsen passierte Ähnliches. Als Liedermacher war ich involviert in diesen Streik. Ich habe Muggen gemacht, habe Konzerte gespielt, Geld gesammelt, um Solidarität zu bündeln, auch um die Ideen der Bergarbeiter zu artikulieren und in die Gesellschaft zu reflektieren. Am Ende dieses Streikes war mein Adressbuch voll mit Telefonnummern von linken Musikern, die ich getroffen hatte.
Natürlich traf man bei diesen Konzerten immer dieselben Leute. Wir haben Adressen ausgetauscht, uns hingesetzt und gefragt, was wir jetzt machen können. War es das? Soll es das gewesen sein? Kann Margaret Thatcher weitermachen, wie es ihr beliebt? Oder gibt es noch etwas, was wir machen könnten, um zu versuchen, die Tories zu schlagen?
1987 waren dann die nächsten allgemeinen Wahlen in England. Wir beschlossen, eine Kampagne zur Unterstützung der Labour-Party zu organisieren, welche die besten Chancen hatte, Margaret Thatcher zu schlagen. Wir wollten uns nicht in die Labour-Party integrieren, sondern unabhängig von der Partei bleiben. Wir wollten mit ihr arbeiten und sie unterstützen, wo immer wir konnten, freilich auch Kritik üben, wenn wir glaubten, dass es nötig wäre. Ein Teil der Analyse kam von mir. Ich habe damals festgestellt: wir haben uns zu wenig in den Hauptpolitikfeldern engagiert. Tatsächlich ist das fast eine Ketzerei unter Leuten meiner Altersgruppe. Aber wie gesagt: wir haben diese Kampagne 1987 begonnen und den Namen von El Lissitzky entlehnt, von einem bekannten Plakat aus dem russischen Bürgerkrieg: »Schlagt die Weißen mit dem roten Keil!« Wir haben also versucht, in der Musikpresse eine Debatte loszutreten und das Interesse der Leute an der Labour-Partei zu wecken. Wir haben nicht gesagt: ihr müsst Labour wählen. Aber wir haben Labour-Funktionäre zu unseren
Konzerten eingeladen. Wir haben die auf die Bühne gestellt, vor den Konzerten. Man konnte sie befragen. Sie standen im Foyer und die jungen Leute konnten mit denen reden, zwanglos und nicht aufoktroyiert. Das war etwas, was im Kontext der Wahlen von 1987 funktionierte. Wir gewannen die Wahl zwar nicht. Aber diese Kampagne war eine gute Sache. Bei der nächsten Wahl, 1992, war der »Rote Keil« nicht mehr aktiv, aber ich wurde mit anderen Künstlern von Labour eingeladen zu einem Treffen. Da gab man mir einen Fragebogen,
wo gefragt wurde, was ich gern tun würde? So was wie: Leute anrufen, sie überzeugen, usw.. Oder auf einem Bus rum zu fahren und agitieren. Und unten war da noch ein Kästchen »Sonstiges«. Und da hinein hab ich geschrieben: Über Politik diskutieren mit Mitgliedern des Schattenkabinetts, der beabsichtigten Regierung. Das war es, was ich mir vorstellte. Dass man etwas rausbekommt aus denen und dass man was reinpackt. Dass man die Leute auf eigenes Terrain einlädt und mit ihnen arbeitet.
Derselbe Grund brachte mich zum Festival des politischen Liedes in die DDR. Es war mir klar, dass wir hier mit der Partei oder mit der FDJ zusammenarbeiten müssten. Das wussten wir. Und wir standen auf der Bühne, und es gab da diese Fahnen und so. Alle, mit denen wir arbeiteten, waren in irgendeiner Weise Teil des Systems. Und ich war trotzdem bereit, das zu machen. Wegen des Privilegs mit den Leuten in Ostberlin eins zu eins sprechen zu können nach den Konzerten. Das hat mich unwahrscheinlich bereichert. Ich erfuhr von ihren Sichtweisen auf die Welt in persönlichen Gesprächen. Das war mir die Sache wert. Die Funktionäre hier dachten wohl, wenn ich gegen Margaret Thatcher bin, muss ich für Erich Honecker sein (Lachen im Saal). Natürlich habe ich das nicht aufgeklärt. Am Ende wurde ich ja dann auch aus Ostdeutschland rausgeworfen. Bis heute übrigens das einzige Land, aus dem ich je rausgeschmissen wurde. Da bin ich stolz drauf. Zwanzig Jahre ist das her, im Februar 1989. Das war schon haarig damals. Und George Wolter, schon damals mein Dolmetscher, hatte auch sehr viel Spaß. Bei einer ähnlichen Diskussion im »Haus der Sowjetischen Wissenschaften und Kultur« fragte einer: Mister Bragg, was halten sie von der Perestroika? Und von Glasnost? Und ich sagte: große Klasse! Aber man kann nicht beides haben wollen: Glasnost und die Berliner Mauer. Man kann nur das eine oder das andere haben. Und das
war das Ende von Billy Braggs schönen Konzerten. Auf dem anschließenden Flug nach Amsterdam war ich sehr traurig. Ich hatte bemerkt, dass der Druck angestiegen war, im Februar 1989. Und ich hatte die Gelegenheit verspielt, mit den DDR-Bürgern zu reden. Das war zu Ende. Wir wussten ja nicht so exakt wie die Leute in der DDR selbst, wo die Linie verläuft, die man nicht überschreiten darf. Wir kannten das nicht so genau. Und wir
hatten uns selber über diese Linie katapultiert, indem wir das sagten, was wir glaubten, beschreiben zu müssen. Ich war wirklich richtig niedergeschlagen. Möglicherweise war ich für die ein Held. Aber ich fühlte mich nicht als Held. Ich hatte den Eindruck, meine Leute in der DDR im Stich gelassen zu haben. Dass ich leichtsinnig gewesen bin. Ich hatte sie der Macht des Staates überlassen. Und ich hatte bei dieser ganzen Sache einen ziemlich bitteren
Nachgeschmack.

Kleff: Eine Frage hätte ich noch. Kommen wir auf das Lied »We Shall Overcome« zurück. Einem Lied, das die Menschen in der politischen Auseinandersetzung gesungen haben. Eine Hymne, welche die Menschen sangen, wenn sie auf der Straße waren. Meine Frage ist: gibt es solche Musik heute noch? Musik, die von Künstlern geschrieben wird, die ihren Weg findet zu den Menschen, dass die Menschen sie dann zu ihrer Musik machen? Zu einer Art Volkslied, das man singt, wenn man für irgendeine Sache eintritt? Wenn man auf eine Demonstration geht und weiß, man ist in einer schwierigen Situation und wenn man dieses Lied singt, fühlt man sich besser. Gibt es solche Musik, sollte es solche Musik noch geben?

Wenzel: Einmal müssen wir sagen, Billy hat das am Anfang beschrieben, dass wir in einer anderen Zeit leben. Wir haben nicht diese Zentralisierung der Medien. Das heißt: es kommt nicht eine LP raus mit einem Song oder eine Single, die dann von allen gehört wird. Die einen sind bei Facebook, die anderen bei Myspace. Die Gesellschaften sind aufgegliedert, sie haben sich zersplittert. Und Schnittmengen, das, was sich überlagert, sind gering. Sowohl zwischen den Generationen als auch sozial. Bis hin zum Outfit: ob man die Hosen über der Arschbacke
trägt oder unter der Arschbacke, das sind » neumodische Indianerstämme«, sag ich mal salopp, die alle ihre eigene Ordnung haben. Und in dieser Ordnung gibt es gewisse Rituale. Das ist eine der Veränderungen und erschwerte Bedingungen, um Gemeinsinn stiftende Lieder zu konstituieren und sie zu gebrauchen. Und das zweite ist: die Massenprozesse oder die Massendemonstrationen in Europa oder zumindest in Deutschland sind meistens überschrieben mit Losungen wie: Sieben Prozent oder fünf Prozent? Es geht meistens um Geld, es geht weniger um Gerechtigkeit, um den Entwurf für eine Gesellschaft. Für solche Prozesse ist ein Lied nicht hinreichend. Wenn einer sagt: Die öffentliche Gewerkschaft fordert zwölf Prozent! (Lachen im Saal) und man singt den Refrain »Zwölf Prozent, zwölf Prozent«, das mag für die zweitausend Leute, die vor dem Rathaus stehen, cool sein. Aber es ist kein Lied, das für andere kompatibel ist. Das ist ein klein wenig das Problem. Wenn die Losungen,
die Forderungen der Massenprozesse nicht diesen gewissen Egoismus verlassen, dann brauchen sie auch letzten Endes kein Lied. Das Lied braucht man, um den großen gesellschaftlichen Entwurf, den großen Traum, die große Utopie zu konzipieren. Das ist »We Shall Overcome«. In dieser Zeile ist eine Utopie enthalten, die sowohl tröstet als auch widerspricht. Die beides in sich hat. Die Situation war so, dass man dieses Lied brauchte. Das Lied war da. Und dann ist es wie beim Verlieben. Man muss den haben, in den man sich verliebt. Und man muss sich auch verlieben wollen. Dann geht das auf.

Kleff. Wahrscheinlich. Das heißt dann aber auch, dass, da wir so wenige Politiker haben, die noch Utopien entwerfen können, offenbar der Künstler letztendlich beides machen muss: die Utopie entwerfen und sie dann auch musikalisch umsetzen?
Wenzel: Manchmal ist es ja auch die Anti-Utopie. Es ist so absurd, was im Augenblick in Deutschland passiert. Dass diejenige Partei – die diesen Neoliberalismus hoch gelobt hat, der alles in die Krise haut, die FDP – auf einmal bei achtzehn Prozent ist. Ich meine, man fasst sich wirklich an die Birne. Was ist das, was ist das für ein Reflex? Man wählt, man zeichnet die aus, welche die Scheiße hergestellt haben! Das ist doch ein eigenartiger Umstand!

Kleff: Das ist wohl wahr. Ich war, kleine Zwischenbemerkung, auch mal mehrere Jahre in der FDP in den sechziger, siebziger Jahren (Lachen im Saal). Und als ich dann austrat, blieb genau ein politisches Lebensziel übrig: die FDP irgendwann mal richtig unter fünf Prozent zu bringen. Ihr könnt euch vorstellen, wie ich mich im Moment fühle – Billy?

Bragg: »We Shall Overcome«? – Pete Seeger hat den Song ja nicht geschrieben. Das war ein alter Gospelsong. Seeger hat den Text nur etwas verändert. Er kramte wohl irgendwo in Archiven rum, buddelte dabei diesen Song aus und lud ihn mit zeitgenössischen Themen auf. Das war während des Bergarbeiterstreiks, vor 25 Jahren. Als ich, wie gesagt, zum ersten Mal aus London als Solist in diese Bergarbeiterstädte in Nord-England gereist bin. Der Clash-
Fan. Ein Punkrocker. Ein radikaler Singer/Songwriter. Und ich wollte diesen Leuten da mal sagen, was Sache ist. Und als ich da ankam, war ich sehr erstaunt, nicht nur zu sehen, dass da schon traditionelle Folksänger vor mir angekommen waren, sondern dass ihre ganze Tradition politischer war als meine Punk-Tradition. Aber ich stellte auch fest, dass ich der erste war, der denen was darüber erzählt, wie man Songs schreibt für streikende Bergarbeiter. Und ich kapierte: He, ich bin einfach auch Teil einer sehr lang andauernden Tradition. So sollten
wir uns auch heute rückversichern, dass wir beileibe nicht die Ersten sind, die einer Finanzkrise ins Auge sehen müssen. Sicher sind Unterschiede zwischen diesem Finanzkollaps und den früheren auszumachen. Aber die früheren Erfahrungen und Situationen, wo Leute unserer Couleur sich in diese Tradition und Kampf einreihten, die müssen wir natürlich aufgreifen und nutzbar machen. Und wenn es dabei auch darum geht, dass wir Sachen
von Karl Marx wieder aufschnappen. Viele Leute sagen natürlich: Marx war eher ein Philosoph als ein politischer Schriftsteller. Auch Songs haben ein Rieseneigenleben, eine unglaubliche innere Kraft. Wenn man sich vor zwanzig Jahren die Montagsdemos in Leipzig ansah und die Leute selbst dort die »Internationale« sangen, um deutlich zu machen, wo sie herkamen und was eigentlich die Ziele waren: diese Songs hatten auch da noch ihre Kraft,
noch in dieser späten DDR. Meine Erfahrung ist: wenn Leute getrieben, wenn sie unterdrückt werden, dann stehen die irgendwann auf und nehmen diese Songs für sich, schreiben die Texte um und geben ihnen neue Sprengkraft.
Ich akzeptiere nicht ganz, was Wenzel sagt. Dass alle Menschen völlig fragmentiert und atomisiert sind. Seht mal die Leute in Island. Die gingen zu ihrem Parlament und klopften dort an die Türen. In Argentinien ist was Ähnliches passiert, als der internationale Währungsfonds die argentinischen Banken in den Kollaps getrieben hatte. Die Leute registrieren genau. Und die Leute im isländischen Parlament wussten ganz genau, dass sie gemeint sind. Dass sich das gegen sie richtet. Da waren nicht Leute, die für zwölf Prozent Lohnerhöhung demonstrierten, sondern die wollten mehr. Hier kommt unsere Tradition ins Spiel. Zumindest in meinem Land ist die Idee einer gerechten Gesellschaft der Schlüssel zur Tradition. Wir leben ja nicht in einer besonders gerechten Gesellschaft. Die Leute gucken sich die Geschichte in Großbritannien an und es scheint gerecht zu sein. Durch das Wahlrecht, durch das Recht eines jeden auf freie Rede. In dieser Tradition gab es eine Art Wohlfahrtsstaat nach dem Zweiten Weltkrieg. Mit freier Gesundheitsfürsorge, freiem Zugang zur Bildung, sozialem Wohnungsbau, vernünftigen Renten, usw.. Aber diese Tradition ist ja in einen Tiefschlaf verfallen. Ist seit 1987, also nach dem Bergarbeiterstreik, abgewürgt worden. Ich plane jetzt im Sommer eine Tour in Wales. Eine Jahrestagstour, 25 Jahre nach dem Bergarbeiterstreik. Die walisische Arbeiterklasse war immer die Elite der Arbeiterbewegung. Sehr selbstbewusst, sehr unangepasst. Die ganze industrielle und gewerkschaftliche Organisation war legendär in Wales. Diese Ideale von Gerechtigkeit, Fairness. Diese progressive, radikale Tradition; in Wales gibt es die noch. Sie brennt nicht mehr so hell wie früher, aber sie ist noch da. Und wenn ich diese Tour machen werde, dann werde ich die Leute nicht zur Nostalgie aufrufen, etwa die Neunziger zurücksehnen. Ich vermisse die nicht. Margaret Thatcher, Ronald Reagan, die Berliner Mauer, »Spandau Ballett« (Lachen im Saal) – all diesen Mist vermisse ich gar nicht. Aber bei dieser Tour wird es mir darum gehen, die Asche dieser Tradition wieder anzufachen, um zu erhellen, wo wir jetzt sind. Und die Leute daran erinnern, dass wir damals, 1986/87, nicht auf der Straße waren, um jetzt zuzusehen, wie die Banker und die Bosse die Kohle einsacken und uns arbeitslos machen. Ich will, dass Leute wieder aufstehen und sich organisieren. Ich will nichts nostalgisch verklären. Es sind unsere Traditionen, unsere gemeinsame linke Tradition, ihre Gegenstände, Ereignisse, Erfahrungen, Instrumente und Werkzeuge, die wir heute benutzen, auf die wir uns zurückbesinnen und die wir auf unsere aktuelle Situation anwenden sollten.

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