Folker!-Gespräch 2010

Krise des Kapitalismus – »schlecht für das soziale Klima (…), aber gut für das politische Lied«?
FOLKER-Gespräch
Sonnabend, 27. Febr. 2010, 16 Uhr, ZwiEt

Teilnehmer:

  • Bernadette La Hengst
  • Tapani Gradmann (The Incredible Herrengedeck)
  • Kutlu Yurtseven (Microphone Mafia)
  • Moderation: Michael Kleff (Journalist, Bonn/New York)

Kleff: Herzlich willkommen zum FOLKER-Gespräch hier beim Festival »Musik und Politik«. Ist ja mittlerweile auch schon eine Tradition. Für alle, die den FOLKER noch nicht kennen – so sieht er aus, und es gibt auch noch einige Exemplare hier, wenn man rausgeht, auf dem Informationstisch. Ich hätte gerne den neuen FOLKER hier gehabt, da ist nämlich ein Beitrag über die Mitdiskutantin drin. Also, wer später was über Bernadette La Hengst nachlesen möchte, kann das im nächsten FOLKER tun. Und damit sind wir schon mittendrin, bei unsern Gesprächsteilnehmern. Tapani Gradmann, »Incredible Herrengedeck«. Die werden wir heute Abend noch hören. Bernadette La Hengst, ebenfalls heute Abend zu hören beim Konzert »Liederbestenliste präsentiert«, und schließlich Kutlu Yurtseven von der »Mikrophone Mafia«, die meisten von euch werden vielleicht vorhin zugehört haben bei dem Konzert um 14 Uhr. Gemeinsam wollen wir diskutieren über die Frage: Krise des Kapitalismus – schlecht für das soziale Klima, aber gut für das politische Lied? Ich habe mir gedacht, dass wir mit einer Antwort auf diese Frage gleich in der ersten Runde beginnen. Ich will vielleicht noch erwähnen, dass ein Teil dieser Diskussion in ein paar Monaten, nämlich am ersten Mai, in einer »Langen Nacht des politischen Liedes« im Deutschlandfunk wieder zu hören sein wird, in Auszügen. Das passt ja da ganz gut. Fangen wir einfach an.

Gradmann: Tja, bisschen abstrakte Frage. Ich würde erst mal sagen, das »politische Lied«, das bringt ja erst mal keinem was, da muss ja was dahinter stehen, für was oder wen man singt, oder was man damit erreichen will. Politische Lieder sind ja dazu da, um politische Bewegungen zu stützen oder zu motivieren, vielleicht auch ins Leben zu rufen, um etwas zu verändern. Natürlich gibt diese Krise vielleicht Inspiration; wir haben auch ein Lied geschrieben, was direkt mit der Krise zu tun hat. Das heißt »Chor der Banker«: » …die Welt geht unter, wir brauchen mehr Geld«. Also es geht darum, dass die Banker jetzt weinen und dann plötzlich eben auch Geld da ist. Was vorher nie möglich gewesen wäre, so viel Geld plötzlich loszumachen!

Hengst: Okay. Ich stimme mit dir überein, dass die Frage sehr abstrakt ist, aber wir wollen ja auf ’ne abstrakte Frage ’ne konkrete Antwort, deswegen versuch ich mal, so konkret wie möglich zu sein. Für mich persönlich oder für ein Projekt, was ich gemacht habe, war die Krise sehr gut! Wir waren also die ersten Krisengewinnler, sozusagen. Mit einer Theaterinszenierung namens »Die Bettleroper«, die wir am Theater Freiburg letztes Jahr aufgeführt haben. Wo ich einen Chor zusammengestellt habe aus zehn Armutsexperten, mit Bettler- oder Bettelerfahrung, und mit Obdachlosenerfahrung. Die waren sozusagen die Avantgarde-Bettler, die dem Publikum gezeigt haben, was sie in Zukunft, nach dem sozialen Abstieg, erwartet und wie sie damit umgehen können. Dieses Theaterstück war ein halbes Jahr lang, dreizehn Vorstellungen, immer ausverkauft. Das heißt: Es scheint die Leute interessiert zu haben, zu wissen, was sie in Zukunft erwartet.
Insofern war für mich die Krise sehr inspirierend. Aber ehrlich gesagt: Wir wussten, als wir das Stück geplant haben, noch gar nicht, dass es die Krise überhaupt geben würde. Ich hätte das Stück so oder so gemacht. Es war eher Zufall, dass wir dann letztlich irgendwie davon profitiert haben. Und dass uns zugehört wurde.

Kleff: …und ihr dann übrigens auch in der Liederbestenliste vertreten wart …

Hengst: Stimmt. Mit dem Lied »Avantgarde-Bettler«.

Yurtseven: Auch ohne die Krise gäbe es das politische Lied noch, das gute politische Lied. Keiner ist glücklich, dass es die Krise gibt, damit er darüber Lieder schreibt. Es gibt genug Gründe, politische Lieder zu schreiben; da brauchen wir uns nicht eine Krise zu wünschen, um weiter politische Lieder schreiben zu können.

Kleff: Das Festival beschäftigt sich ja dieses Mal – das mag Zufall oder Absicht sein – mit drei großen Namen, die untrennbar mit politischer Kultur, mit politischer Musik zu tun haben: Theodorakis, Seeger und Wyssozki. Alle drei waren sie eigentlich ihr Leben lang in irgendeiner Form verbunden mit politischer Arbeit, mit politischer Bewegung. Wenn ihr solche Persönlichkeiten betrachtet, die ja alle drei ein hartes Leben gehabt haben, auf ganz unterschiedliche Art und Weise, die mit ihrem Eintreten, ihrem Singen immer im Konflikt waren mit herrschenden gesellschaftlichen Zuständen – was unterscheidet euch von solchen Leuten? Weil: Alles was ihr macht, derzeit – man kann’s ja machen! Man wird dafür nicht ins Gefängnis gesteckt, und es gibt auch immer irgendeinen Sender, der irgendetwas spielt! Also, wenn man daran denkt, dass jemand wie Pete Seeger siebzehn Jahre lang nicht im Radio und im Fernsehen gespielt wurde – für den war politisches Lied eine existentielle Bedrohung. Weil er sich mit seinen politischen Liedern sozusagen ins Abseits gestellt hat. Was heute, wenn man ehrlich ist, eigentlich nicht passieren kann. Also was heißt das für Musiker, für Künstler wie euch, wenn ihr euch mit politischen Stücken beschäftigt? Welche Rolle hat das für euch in eurer Identität?

Yurtseven: Also der Grund, warum wir mit Rap angefangen haben, war eine Identitätskrise, in der wir damals waren. Weil wir nicht wussten, wo wir hingehören: in die türkische oder in die deutsche Gesellschaft. Und uns von oben herab immer erzählt worden ist, was wir sind und wer wir sind. Rap war für uns eine Insel, wo wir uns ohne Kultureinfluss oder Gesellschaftseinfluss oder Elterneinfluss entfalten konnten. Darum war’s für uns politisch. Und wir wollten unseren Eltern, aber auch der deutschen Gesellschaft zeigen: Wir gehören hierher, wir sind da! Und: Lebt mit uns! Aber es war für uns nie so wie bei Pete Seeger oder Theodorakis, dass unser Leben bedroht war. Es gibt ein türkisches Sprichwort: Das Feuer brennt da, wo es hinfällt. Jeder hat seine eigene Krise, seine eigene Bewältigung, und das sollte man nicht, und das kann man auch nicht gegeneinander aufwiegen. Wir hatten es natürlich einfacher, weil wir eben nicht ins Gefängnis gekommen sind oder gejagt wurden, unsere Mütter oder Schwestern oder Frauen nicht mit Steinen beschmissen wurden, weil sie Kommunisten waren. Wir hatten es einfacher, aber jeder hatte seine Krise, die ihn dazu gebracht hat, so eine Art von Musik zu machen.

Hengst: Es ist allerdings auch ein bisschen gefährlich, sich immer an solchen Vorbildern abzuarbeiten. Es steckt ja sehr viel Romantisierung mit drin, dass man nur wirklich politisch sein kann, wenn man in Lebensgefahr ist. Also das seh’ ich ’n bisschen anders. Du hast ja vorhin beschrieben: Das war ’ne Identitätskrise, warum ihr angefangen habt zu rappen. Das finde ich genau so existentiell, als ob man mit Steinen beworfen wird. Nur eine andere Form davon. Bei mir war es vielleicht so: Es gab in den Achtzigern extrem wenig Musikerinnen, und in den Neunzigern auch noch und leider in den Nuller-Jahren immer noch. Das heißt, ich habe mich in eine Männerdomäne vorgewagt, die nicht für mich vorgesehen war. Das war halt immer wieder ein Kampf, eine Art von Selbstermächtigung. Das war einer der Antriebe, warum ich angefangen hab, Musik zu machen: Ich kann das auch, und deswegen werd ich’s auch tun! Selbst, wenn ich’s nicht kann, werd ich’s tun. Do it yourself. Und dann sind noch viele andere Gründe dazugekommen. Also, ich bin sehr vielfältig. Ich mache Popmusik, aber ich versuche mich auch mit politischen Diskursen auseinanderzusetzen, mit Geschichte, sie mit einfließen zu lassen in meine Musik – Feminismus, Popkultur, Philosophie, Tagespolitik, das fließt alles mit rein, damit muss ich mich auseinandersetzen. Und ich möchte die Widersprüche stehen lassen, sowohl im Stil als auch in der politischen Artikulation …

Gradmann: Wir haben auch keine schwere Zeit gehabt, als wir angefangen haben. Wir haben Musik gemacht, weil wir Lust dazu hatten, wir wollten uns irgendwie ausdrücken. Wir sind aber sehr schnell zu ’nem Punkt gekommen – also schon mit unserer ersten Band, wo wir mit dreizehn Jahren angefangen haben –, dass wir gesellschaftliche oder politische Themen vertonen wollten. Wir waren beeinflusst von diesen Liedern gegen Ausländerfeindlichkeit, auch diese HipHopper-Geschichten, advanced chemistry und sowas … Musik ist für mich eine Möglichkeit, mich auszudrücken, Stellung zu nehmen, auch gehört zu werden, und natürlich auch ein bisschen die Hoffnung, dass andere ermutigt werden, in ’’nem Kampf oder in ’’nem Engagement, um vielleicht was zu verändern. Aber es ist eben einfach auch mein persönliches Ding, dass ich Musik machen will …

Kleff: Tapani, du hast vorhin bemerkt, dass ein politisches Lied auch was mit politischer Bewegung zu tun hat. Also einerseits dass es sie stützt, begleitet oder ins Leben ruft. Wenn man zum Beispiel die deutsche Geschichte betrachtet, das Verhältnis von politischen Bewegungen und politischer Musik, da gab es ja mal Hoch-Zeiten. Wenn man an die späten Sechziger denkt, wo es einen sehr engen Zusammenhalt gab zwischen der Studentenbewegung und Liedermachern. Dann später vor allem im Ruhrgebiet, als die großen Stahlstreiks waren, wo Musiker sehr eng verbunden waren mit den Demonstrationen und Streiks, die stattgefunden haben. Oder in der Antivietnamkriegsbewegung gab’s ’ne sehr enge Verbindung. Wie ist das heute? Gut, da ist Attac; die haben sogar eine CD rausgegeben vor kurzen, zum Jubiläum, wo sich viele Musiker beteiligt haben. Wie seht ihr das? Gibt es für euch überhaupt eine politische Bewegung, der ihr euch unterstützend widmen wollt? Oder braucht ihr die nicht, wenn’s sie nicht gibt?

Hengst: Natürlich gibt es politische Bewegungen. Die gibt es immer wieder. Aber ich als Künstlerin möchte aufpassen, dass ich davon nicht vereinnahmt werde. Ich möchte nicht die Sprecherin einer Partei und noch nicht mal einer NGO sein. Sondern ich möchte als Denkerin, als Musikerin, als Künstlerin unabhängig sein. Aber dennoch sind es natürlich oft politische Bewegungen, die mich inspirieren zu Liedern. Ich glaube nicht daran, dass Lieder zuerst kommen und eine Bewegung initiieren, sondern eher andersrum. Also Ideen, auch politische Visionen, schwirren im Raum herum, und man muss die nur auffangen, aufmerksam hingucken, oder sich Bewegungen anschließen. Und dann kann man daraus auch Lieder machen. Das geht so Hand in Hand. Es verschmilzt miteinander. Also ich war zum Beispiel seit 2000 öfter auf sogenannten no-border-camps – weiß gar nicht, ob’s die jetzt noch gibt. An grenznahen Orten, aber auch zum Beispiel in Frankfurt am Flughafen, wo es um Abschiebepolitik ging. Und in Straßburg ging’s halt um EU-Außengrenzen und so weiter. Da haben wir uns als Band, als Gruppe, als Agitationsgruppe formiert; wir nennen uns Schwabinggrad-Ballett … Weil nämlich zu solchen Camps normalerweise Bands gefragt werden, um die Popularität des Camps zu erhöhen. Die werden dann auf ’ne Bühne gestellt und sollen dann dort spielen, und dann könn’se schön wieder nach Hause fahren – was die meisten Bands auch tun. Wir wollten uns aber selber dort einmischen, selber mit organisieren und auch auf der Straße spielen. Also da ist zum ersten Mal für mich politischer Aktivismus und Kunst zusammengeflossen. Die Gruppe existiert immer noch, da sind halt politische Aktivisten, Künstler, Filmemacher und Musiker dabei. Das war für mich eine sehr wichtige Form der Kooperation, wo diese Szenen sich zum ersten Mal begegnet sind. Daraus sind sehr viele andere Sachen für mich entstanden.

Yurtseven: Ich glaube, es gibt nicht mehr die eine Bewegung, wo man sich hingibt und wofür man kämpft. Wenn ich für Mikrophone Mafia sprechen darf: Wir sind bei Rock gegen Armut, bei Rock gegen rechts … Man sucht sich bestimmte Themen aus, die einen persönlich in dem Augenblick bewegen und die einem wichtig sind. Man schaut sich das an und geht in mehrere Strukturen. Diese eine Form, zum Beispiel diese Friedensbewegung, die so dominant war, gibt’s ja meiner Meinung nach so nicht mehr. Es gibt ’ne Friedensbewegung, und es gibt Bewegungen gegen Rassismus, gegen Rechtsradikale, gegen Armut, gegen soziale Ungerechtigkeit, für Umverteilung – es gibt verschiedene Strukturen, die aber alle was miteinander zu tun haben. Nämlich mit dem Leben. Und deswegen setzt man sich eben dafür ein.

Hengst: Na ja, in der Friedensbewegung – das hat sich ja extrem gewandelt. Seitdem Deutschland selber beteiligt ist an Kriegen, und seitdem überhaupt Antisemitismus innerhalb der Linken diskutiert wird, gibt’s da ja sehr viele verschiedene Fraktionen, und die Friedensbewegung wird ja dadurch auch auseinandergerissen. Deswegen muss man da genauer differenzieren. Und das finde ich eigentlich auch ganz gut: die Widersprüche zu sehen.

Gradmann: Interessanterweise ist es ja so, dass es zu dieser Krise, zur Krise des Kapitalismus, noch keine Bewegung gibt, jedenfalls nehme ich die nicht so wahr als große, starke Bewegung. Und diese Frage »gut fürs politische Lied?«, kann man dann nochmal mit Nein beantworten, weil daraus bisher noch nicht so viel entsteht an Bewegung. Wir werden oft gefragt, ob wir auf irgendwelchen Soliveranstaltungen spielen, und wir machen das auch manchmal gerne, weil wir die Sache unterstützen wollen. Ich weiß nicht, ob wegen uns mehr Leute auf die Demos kommen; so’n großen Namen haben wir dann doch noch nicht. Aber es ist schon eine Möglichkeit, sich zu beteiligen an ’’ner Bewegung, aber ich würde auch sagen, ich möchte mich da nicht komplett vereinnahmen lassen, so als Sprachrohr dastehen …

Kleff: Stichwort »vereinnahmen lassen«. Woher kommt die Angst vor Vereinnahmung?

Hengst: Bei mir geht’s darum, dass ich Parolen nicht mag. Ich hab jetzt schon ein paar Mal von Widersprüchen geredet. Mir kommt es bei dieser Art von Liedermachern oft so vor, als ob sie sowieso nur zu denen sprechen, die derselben Meinung sind, also preeching to the converted. Worüber diskutieren wir? Sind wir nicht alle sowieso einer Meinung? Oder wollen wir nicht mehr die Lücken dazwischen rausfinden? Da, wo wir nicht einer Meinung sind?

Yurtseven: Mit Vereinnahmung meinen wir nicht, dass wir einer gewissen Bewegung zugeschrieben werden, sondern dass wir nicht mehr als Künstler gesehen werden. Nur noch als Objekt, das zu kommen hat. Man wird oft gefragt, ob man irgendwo hinkommen möchte, und es ist selbstverständlich, dass es da gar nicht mehr auf die Kunst, auf die Musik ankommt … die dann nur etwas Unterstützendes ist. Sie soll dann nur noch dazu dienen, diese Aktion in diesem Moment zu unterstützen. Es ist eine Vereinnahmung. dass man nur noch – auch ungewollt, das muss ja nicht immer böser Wille sein – benutzt wird. Das meint er, glaube ich, mit Vereinnahmung.

Gradmann: Für einen Inhalt vereinnahmt zu werden, finde ich grundsätzlich gar nicht so schlimm. Wenn derjenige sagt: Ich steh jetzt wirklich dafür – dann ist das doch okay! Wir haben zum Beispiel lange überlegt, ob wir für bestimmte Parteien, die uns angefragt haben, spielen wollen. Natürlich ist das noch keine direkte Vereinnahmung, aber manchmal hat man schon das Gefühl: Man muss sich davon distanzieren. Wo bleibt man selber, und wo übernimmt man dann quasi die Inhalte von so einer Organisation …

Kleff: Das ist ein guter Punkt. Wenn wir mal zurückdenken an die letzte Bundestagswahl und das vergleicht mit Wahlen vor, sagen wir mal, fünfzehn, zwanzig Jahren. Es gab mal Zeiten, wo Künstler sich vehement bei Wahlen eingesetzt haben, für eine bestimmte Politik, für bestimmte Politiker oder Parteien. Bei dieser letzten Wahl hatte man den Eindruck: Es gibt keine Künstler, die sich irgendwomit identifizieren wollen. Vielleicht aus gutem Grund – das wäre ’ne andre Frage. Aber: Was sagt das über die Gesellschaft, dass sich Kultur aus der Ebene der Auseinandersetzung mehr und mehr herauszieht? Also mit dem, was hier jetzt in Berlin passiert, will eigentlich keiner mehr was zu tun haben. Man spielt für die Initiative gegen Rassismus oder im Theater in Freiburg die Bettleroper – man zeichnet also gesellschaftliche Realität nach, mischt sich ein, aber man ist ganz weit weg von dem, was, zumindest formal, die Demokratie in Deutschland ausmacht: das Parlament, die Parteien.

Gradmann: Es herrscht ein Misstrauen gegenüber diesen Parteien, und ich finde das auch berechtigt. Und ich finde andersherum, dass Graswurzelbewegungen, die eigentlich demokratischer sind, auch stärker sind. Vor drei Jahren, der G-8-Gipfel in Heiligendamm, wo wir auch – eher spontan – gespielt haben: das fand ich eine spannende Erfahrung, was da für ’ne Bewegung entsteht! Und umgekehrt, die Parteien …Vielleicht ist es eine Art Resignation, dass man nicht mehr glaubt, dass die Partei jetzt die Wende bringt und alles anders macht. Da ist eher ein Misstrauen diesem System der Parteien gegenüber.

Kleff: Auch das ist ein großer Unterschied zu vergangenen Zeiten: Man hat mit dem politischen Liedermacher meistens jemanden verbunden, der mit einem Instrument auf der Bühne steht und einen Text vorträgt – das hat sich ja in den letzten Jahren sehr verändert. Wenn ich an das Theaterprojekt denke oder an das Schwabinger Ballett oder an HipHop – es hat sich ziemlich verlagert, auch vom Genre her, wie und wo politische Inhalte aufgegriffen werden und musikalisch präsentiert werden. Womit hat das zu tun? Mit dem inneren Ansatz des Künstlers? Oder auch mit dem Publikum? Dass es dem Publikum nicht mehr reicht, eine Person da irgendwo stehen zu haben, die irgendwas verkündet?

Hengst: Ja bei Musik oder bei Liedern geht es ja nicht nur um die Texte. Form und Inhalt müssen halt irgendwie zusammen sexy Hand in Hand die Straße überqueren können. Oder tanzen. So seh’ ich das. Es gab so viele verschiedene Musikrichtungen, die irgendwie auf eine Art politisch waren, ohne immer in den Texten auch politisch sein zu müssen. Also allein Techno – da gibt’s überhaupt keine Texte, und trotzdem ist das eine Art politischer Umbruch gewesen, in der musikalischen Form – oder eine Bewegung, das hat irgendwas befreit. Auch die Produktionsmittel sich aneignen zu können, dass dadurch jeder Musik machen konnte, der kein Instrument spielt, und so weiter, das bedeutet ja alles was. So wie Punk Rock: do it yourself. So wie HipHop natürlich auch. Irgendjemand schmeißt ’n Beat an, und die Leute fangen an zu rappen und finden ihre Sprache. Insofern muss das zusammen gehen, es kann nicht dabei bleiben, dass ein Lied nur dann gehört wird, wenn es zu ’’ner Gitarre oder zu ’nem Klavier vorgetragen wird.

Yurtseven: Ich glaube auch nicht, dass es den Leuten nicht mehr reicht – die Musiklandschaft hat sich einfach verändert. Dass jetzt eben HipHop, Techno, dass ganz viele neue Musikrichtungen sich entwickelt haben und jetzt auch dazu stoßen, in das politische Lied. Also Rap ist ja eine politische Bewegung, von jungen Schwarzen, die auch in Deutschland als erstes von Kids mit Migrationshintergrund aufgenommen worden ist. Und das allein ist ja schon eine Aussage! Man braucht nicht viel. – Hätte ich meinem Vater gesagt, ich will ’ne Gitarre haben, dann hätte er sie nicht gekauft, weil wir das Geld für die Türkei gespart haben. Aber es kam Rap; ich brauche nur ’n Blatt Papier und ’n Beat, und schon leg ich los! Das ist eben die Offenheit, die Veränderung in der Musik. Es ist eben nicht immer nur akustisch und groß produziert, sondern – einfach gemacht.

Gradmann: Also, Bernadette hat schon recht, dass es auch so’n bisschen sexy sein muss, ’n bisschen cool. Wenn ich so alte Liedermacher höre – es gibt einige, Degenhardt zum Beispiel, die ich schon ziemlich genial finde, von den Texten und alles, aber es gibt auch viele, wo ich dann aussteige …

Kleff: Wo steigst du da aus? Bei der Musik oder …?

Gradmann: Ja, bei der Musik, aber auch wie das aussieht irgendwie (Lachen im Saal) … Nein, ich glaube, es ist einfach wichtig, dass man sich damit identifizieren kann. Dafür muss die Musik auch für Leute ansprechend sein. Und mal abgesehen davon: Unsere Erfahrung von Liedern ist ja noch am nächsten dran an dem Liedermacher, der da mit der Gitarre steht …

Hengst: … ich spiel heut auch wieder mehr Gitarre als sonst; ich komm auch wieder zurück zu den Graswurzeln!

Gradmann: … nee, ich finde wichtig, dass die Leute sich damit identifizieren können!

Yurtseven: Bei den »Doors« zum Beispiel war es doch auch so: weil die die einfach cool fanden! Nicht nur, weil die Texte und die Musik super waren. Sondern weil das ganze Paket gestimmt hat. Ich meine: Der beste Text bringt dir nichts, wenn deine Musik nicht gut ist, und die beste Musik bringt dir nichts, wenn du Massiv* heißt …

Kleff: Wie definiert ihr, was für euch politisches Lied oder politische Musik ist?

Hengst: Schwierig. Ein gutes Lied – könnt ich eher sagen. Politisches Lied – weiß ich nicht. Ich finde, ein gutes Lied schließt immer die Welt mit ein. Ein gutes Lied sorgt immer für Verwirrung. Ein gutes Lied lässt immer ganz viele Fragezeichen. Es will keine Antworten geben, sondern Fragen stellen. Das ist ein gutes Lied. Und es muss mich rocken. Manchmal darf’s mich auch schmusen, aber eher rocken.

Gradmann: Also ich weiß nicht, wie ich es definieren würde.

Yurtseven: Es gibt ja kein Rezept für ein politisches Lied: fünfhundert Gramm davon, zweihundert Gramm davon …

Kleff: Dann nehmen wir mal als Beispiel Konstantin Wecker. Er hat in einem Kommentar zur Bundestagswahl im FOLKER unter anderem folgenden Satz geschrieben: »Wer in dieser Zeit nicht seine Stimme erhebt für eine friedvolle Welt und gegen den Wahn der Menschheit, sich selbst und die Erde durch Gier und Dummheit gezielt zu vernichten, der hat es nicht verdient, eine öffentliche Stimme zu haben.« – Wecker hat das formuliert als Kritik an seinen Kollegen, dass sie sich zu wenig erheben gegen das, was in dieser Welt passiert. In dieser Form definiert er, was politische Kunst sein kann. Er fordert also eine engagierte Kunst.

Hengst: Also, mir ist da zu viel Betroffenheit drin. Mich nervt diese Betroffenheit. Ich möchte da manchmal auch ein bisschen mehr Leichtigkeit drin haben, ein bisschen mehr Ironie, ein bisschen mehr Gebrochenheit, und nicht nur dieses eins zu eins: Ich steh mit meinem ganzen Körper und mit meinem ganzen Leben für eine politische Bewegung – ich kann damit nicht so richtig was anfangen.

Kleff: Was stellst du denn dagegen? Also: Wie viel von deinem Körper gibst du der Bewegung? (Lachen im Saal)

Hengst: Ich geb natürlich meinen ganzen Körper – für was eigentlich? Für die Kunst! Ah Scheiße, das wollt ich eigentlich nicht! Ich meine, ich bin ja angetreten, Kunst zu machen, damit ich bis mittags um zwölf im Bett liegen kann (Lachen) und ganz viel Alkohol trinken kann und Drogen nehmen und sowas. Das ist ja eigentlich der Grund. Und jetzt, ja, ab vierzig, da sieht das dann nochmal anders aus. Ich hab ’ne kleine Tochter, und jetzt renne ich von einem Theaterprojekt zum nächsten und verhalte mich so, als müsste ich jeden Tag die Welt retten. Also es hat sich auch irgendwie verändert, aber ich versuche es immer mal wieder mit Leichtigkeit zu nehmen. Und anderen Leuten zuzuhören. Humor ist da ganz wichtig, Tanzbarkeit – also all das, was wir vorhin schon besprochen haben. Da geht’s auch um Pop, also Pop überhaupt im Körper aufzunehmen, und nicht nur als so ein Konstrukt, so ein diskursives Konstrukt, sondern das auch zu leben! Und da gehören auch Humor und Leichtigkeit dazu.

Gradmann: Ja, das mit dem Humor – das ist eine unserer wichtigsten Sachen. »Spaß kann auch Widerstand machen« ist ja so ’n Spruch gewesen von dieser reclaim-the-streets-Bewegung, das ist ganz wichtig, und das geht auch den Liedermachern teilweise ’n bisschen ab, dass die oft sehr moralisch und Konstantin-Wecker-mäßig und sehr ernst sind … Also, es muss nicht schlecht sein, aber es ist halt so ’ne sehr mühsame Herangehensweise. Das einzige Lied, was nicht so lustig war, war das zur Wirtschaftskrise … (Lachen im Saal)

Kleff: … die ist ja auch nicht lustig …

Gradmann: … aber sonst probieren wir eigentlich immer, das alles irgendwie auch humorvoll zu verpacken. Und auch ironisch zu sein. Manchmal ist es so ironisch, dass man so ein bisschen fragt: Ja, wie meinen die das jetzt?

Hengst: … Ironie als Flucht! Sag’s ruhig.

Gradmann: Das ist eher meine Herangehensweise als dieses sehr Moralische und sehr Pathetische.
Kleff: Aber welchen Grad an Verbindlichkeit hat dann das, was ihr singt? Wenn du sagst, ihr macht ein Lied zur Wirtschaftskrise, über die Banken, heißt das dann: schnell ’n Lied gemacht, und ab zum nächsten? Ich denk grad dran, im vergangenen Jahr hat der Kollege Kunze eine Platte gemacht, mit dem schönen Titel »Protest«. Das war dann aber mehr ein Marketingkonzept. Weil: Auch Kunze taucht nicht mehr so häufig auf bei den Aktionen und Veranstaltungen, wo wirklich Protest angesagt ist. Wenn man die Presseerklärung gelesen hat – es war ein reines Marketing- und Verkaufskonzept.

Yurtseven: Wir machen ja Lieder, um unsere Erfahrungen, unsere Eindrücke widerzuspiegeln. Allein das ist ja schon eine Verbindlichkeit. Ich setze mich ja nicht hin und sage: Was könnte jetzt die Menschen interessieren? Sondern: was interessiert mich! Und wenn’s dann andere Menschen auch interessiert oder sie auch unterstützt, dann ist es schön und gut. Dann hat das Lied nochmal ’ne andere Dimension bekommen. Aber im Endeffekt ist es ja erst mal: Was denke ich, als Künstler, über bestimmte Situationen, und auch als Mensch. Weil: Beides fließt ja ein. Es gibt ja nicht hier den Künstler und da den Menschen, und beide diskutieren miteinander. Sondern wir machen nun mal Kunst, in dem Fall Musik und Theater, und unsere Gedanken bringen wir so zum Ausdruck. Einige schreiben Kolumnen, andere drehen Filme, und wir machen es mit Musik. Und es ist immer noch verbindlich, auch wenn es nicht jedem aus der Seele spricht oder für andere gemacht ist.

Hengst: Also natürlich trägt man bei sowas wie der Bettleroper, wo man Laien mit einbindet, vor allem aus so einem Bereich von wirklicher Armut, die man auf ’ne Bühne holt, schon große Verantwortung, dass diese Menschen nicht ausgestellt werden. Sondern uns war es von Anfang an wichtig, dass das eine Projektarbeit ist, dass die das Theaterstück mit entwickeln, dass sie nicht von oben etwas aufgedrückt bekommen, sondern ihre eigne Sprache finden, und auch, dass es für sie in irgendeiner Art und Weise weitergeht. Die dürfen jetzt zum Beispiel im Theater einmal die Woche proben und werden noch in verschiedene andre Stücke mit eingebunden. Es ist für mich zum Beispiel sehr wichtig, dass es nicht bei einem Projekt bleibt, sondern dass es irgendwie weitergeht. Jetzt hab ich grad in Hamburg ein Stück gemacht, in einem Jugendknast mit sieben Jungs von da, was als HipHop-Workshop angedacht war und dann aber ein Theaterabend wurde, mit zum Teil filmischen Mitteln und mit viel Liedern. Nur zwei von denen hatten Ausgang, der Rest musste halt von der Leinwand kommen. Und da zum Beispiel war’s mir ganz wichtig, dass die auch ’ne Weiterarbeit bekommen. Ich hab jetzt organisiert, dass andere Musiker aus Hamburg mit denen HipHop-Workshops machen. Vielleicht habt ihr ja auch mal Interesse, da hinzufahren? Insofern: Das hat schon ’ne Verbindlichkeit. Ich mache nicht ein Projekt, und dann isses abgeschlossen, und ich denk nicht mehr drüber nach …

Gradmann: Ja, mh, ist schwierig. Also wie gesagt wir arbeiten sehr viel mit Ironie, und es gibt halt Lieder, da ist es schwer. Zum Beispiel singen wir ein Arbeiterlied, das klingt eben wie ein Arbeiterlied aus den zwanziger, dreißiger Jahren. Und ich würde nicht sagen, ich distanziere mich davon, nein, wir singen das schon so, aber weil wir es einfach auch cool finden, ist es in der Form, in der wir es machen, natürlich ironisch. Weil das einfach anders, glaub ich, nicht mehr passt. Und ich hoffe, dass die meisten es auch so verstehen. Und trotzdem bin ich auch beeindruckt von diesen alten Liedern, die haben total viel Kraft, die glauben halt daran, finde ich halt irgendwie beeindruckend.

Hengst: … na, aber es ist doch auch gut, mit der Ironie zu spielen! Ihr spielt ja damit, dass es eine bestimmte Tradition von Arbeiterliedern gibt und dass man die heute nicht mehr eins zu eins singen kann. Also erfindet ihr eure eigenen Arbeiterlieder – oder? Versteh ich das richtig so? Man kann ja nicht eins zu eins Lieder übernehmen, die keine Gültigkeit mehr haben …

Kleff: Mit Musik kann man sicherlich Geschichte hören. Also heut nachmittags das Konzert ist ein gutes Beispiel dafür, wie eben die Mikrophone Mafia mit den Bejaranos ein Stück Geschichte präsentiert, in den Liedern, in den Texten, im Rückblick. Frage: Kann man mit Musik auch Geschichte machen? Kann Musik den Gang der Dinge beeinflussen? Wer den Film über Pete Seeger gesehen hat – da spielt ja das Lied We shall overcome eine große Rolle. Joan Baez sagt in dem Film an einer Stelle: Ohne die Verbindung der Bewegung mit dieser Musik wäre der Vietnamkrieg nicht beendet worden. Ist ’ne kühne These, aber daran anknüpfend die Frage: Wenn ihr auf der Bühne steht – was glaubt ihr, was das transportieren kann?

Yurtseven: Erstmals möchte ich sagen: Das ist kein Projekt mehr, sondern wir sind eine Band geworden! Und zu unseren Konzerten kommen zwölfjährige Schüler, aber auch wie in Hamburg eine 99-jährige Auschwitz-Überlebende. Innerhalb der Band, da kommen wir aus verschiedenen Kulturkreisen, verschiedenen Generationen, verschiedenen Musikrichtungen – irgendwie passt überhaupt nichts zusammen, eigentlich. Aber durch diese Unterschiede erkennen wir unsere Gemeinsamkeiten und nutzen die Unterschiede. Und bringen die zusammen. Ich glaube, das ist einfach ein Beispiel, dass es geht! Was daraus entsteht? Wenn was daraus entsteht, isses schön, aber wenn wir immer was machen, damit wir Geschichte machen oder was Großes entsteht – das würde nicht funktionieren. Wir als Künstler innerhalb der Band, wir haben’s ja selber erst dadurch erkannt, was eigentlich passiert. Wir wussten’s ja selber nicht, als wir angefangen haben. Und dass es sich so entwickelt hat, war überraschend, aber schön, und wenn andere Leute sich daran ein Beispiel nehmen – noch schöner! Aber ob wir jetzt unbedingt Geschichte machen müssen oder werden, das wissen wir nicht. Eher unwahrscheinlich …

Hengst: Ihr beschreibt ja Geschichte. Ist ja auch ein anderer Anspruch. Eure Band holt sich die Geschichte in die heutige Zeit und versucht das aus der Jetzt-Zeit zu beschreiben …

Yurtseven: … und vor allem auch mit der Jetzt-Zeit zu verbinden. Die Ausmaße sind anders, aber es geht immer noch – auch in unserem Leben, auch in dem Leben meiner Nichte, meiner Neffen – um Ausgrenzung, um Hass, um Gewalt, nur in anderen Formen. Und es ist immer noch aktuell, und es gehört immer noch zu unserem Leben. So traurig es auch klingt. Dass wir immer noch, nach so vielen Jahren, darüber rappen müssen. Es sind nur andere Facetten und andere Erscheinungsformen. Aber die Problematik ist immer noch gleich. Dass Avanti Popolo da drin ist – das sind die Parallelen! Ob sich Geschichte wiederholt, weiß ich nicht – aber wir nutzen die Geschichte von damals für die Gegenwart, und leider wohl auch, wie es aussieht, für die Zukunft.

Kleff: Was meint ihr, welche Wirkung Musik hat?

Hengst: Also ich glaub an sowas wie »andern eine Stimme geben« oder an Selbstermächtigung. Die Theaterprojekte, die ich mache, haben meistens was mit Laien zu tun, und ich versuche halt zu erreichen, dass die sich selber eine Stimme geben. Und versuche sie quasi nur zu unterstützen, zu produzieren, sie dort hinzuheben. Also das klassische Protestlied, was jetzt die Mauern zum Einstürzen bringt oder die Kriege stoppt … Also, ein Lied gegen den Afghanistan-Einsatz stell ich mir ein bisschen komisch vor. Ein Lied für Angela Merkel wär auch albern gewesen, braucht man auch nicht so richtig … Kommt ja sowieso, wie’s kommen muss … An das klassische Protestlied, das wirklich was bewirkt, glaube ich nicht. Ich glaub eher, wie ich vorhin schon gesagt hab: Ich schnappe die politische Bewegung auf und versuche das zu verarbeiten in Popsongs.

Gradmann: Ich hab dann doch zumindest die Hoffnung, dass es eine kleine Rückkopplung gibt und sich verstärkt. Ich glaube auch, dass eine Bewegung zuerst da ist und man das aufschnappt und die Ideen verarbeitet … Wie gesagt, beim G 8 habe ich das so erlebt, da haben wir an einem Abend gespielt, es war ein Theaterstück zu diesen G-8-Staaten, und die Leute – die waren so krass begeistert, das hat einfach total gerockt …

Hengst: Aber das ist ein ganz interessanter Punkt! Ich war auch beim G-8-Gipfel und hab da auch mit dem Schwabinggrad-Ballett zehn Stunden auf der Straße gespielt, bin über die Felder marschiert, wir haben Straßen blockiert und all sowas. Und es war echt ’ne lustige Erfahrung und sehr intensiv, aber letztlich war es doch eher eine Art Räuber-und-Gendarm-Spiel. Das Ganze war eine einzige mediale Inszenierung: Die Bullen mit Hubschraubern wurden herabgelassen auf die Felder, kamen zu Pferd, übers Wasser, also mit allen möglichen Mitteln, die im Fernsehen auch alle wunderbar aussahen. Also die brauchten die Leute, um die Straße zu blockieren, die brauchten das alles, damit sie zeigen konnten, dass sie die Bewegung zulassen, dass Demokratie möglich ist bei so einem G-8-Gipfel. Also ich glaub, das bringt alles überhaupt nichts, außer dass es Spaß gemacht hat und dass man mal ein paar Leute getroffen hat, die man lange nicht gesehen hat. …

Gradmann: Also, das ist’ jetzt ziemlich hart, find ich. Ich hab das Gefühl gehabt, dieser Protest um G 8 hat mich persönlich ein bisschen bestärkt in einer Hoffnung, dass man was erreichen könnte, auf so einer basisdemokratischen Ebene. Ist vielleicht nur ein Traum, und da spielt Musik auch ’ne ganz wichtige Rolle. Sich selbst zu bestätigen, so’n bisschen. Man singt zu denen, die’s eh schon wissen, aber die fühlen sich bestätigt. Und das find ich schon gut.

Hengst: Ja klar, da geb ich dir recht. Aber letztlich hat ja dieser Protest nicht wirklich etwas bewegt, sondern war ein Programmpunkt des G-8-Gipfels.

(Zwischenruf aus dem Publikum): Aber wenn er nicht dagewesen wäre, wär’s furchtbar!

Hengst: Das ist wohl wahr. Und trotzdem glaub ich, es war alles vorher so kalkuliert, es war alles vorher so eingeplant. Es hat nicht die Bewegung von sich aus gemacht. Bitte.

Yurtseven: Also ich fand den G-8-Protest auch wichtig, auch wenn er inszeniert war. Natürlich hat die Polizei die Propaganda genutzt. Ist doch klar. Das machen sie immer. Das war auch hier am 1. Mai in Berlin so. Ich hab grad ’ne persönliche Erfahrung gemacht: Eine Lehrerin kam auf mich zu, die von einem türkischen Jugendlichen bedroht wurde, dass er sie umbringen will wegen eines Schulkonflikts. Die ist nach einem Konzert zu mir gekommen und hat mich gefragt, wie sie mit dem umgehen kann. Sie ist nicht mehr in den Unterricht gegangen, weil sie Angst hat. Wir haben uns lange unterhalten … Sie hat ganz offen zu mir gesagt, sie war an dem Punkt: Nichts mehr mit Türken. Ja? Weil sie Angst hatte! Was ich auch vollkommen verstehe. Natürlich kann man jetzt sagen: Oh, einer hat sowas gesagt, und jetzt münzt sie das auf alle anderen. Aber wenn ich um mein Leben Angst hätte, wüsste ich auch nicht, wie ich reagieren sollte. Wir haben miteinander gesprochen, und sie will’s jetzt wieder versuchen. Ich hoffe, ich kann helfen. Ich werd mal einige Berliner Rapper ansprechen. Ich hab ja auch kein Patentrezept. Aber das kann Verbindungen schaffen, die ihr helfen. Und dann haben wir schon was erreicht. Man braucht nicht immer die breiten Massen. Aber wenn wir Schritt für Schritt vorgehen, auch bei den Protesten gegen den Castor-Zug, bei allen Protesten … Es wird immer inszeniert, und es ist auch klar, dass da immer die gleichen hinkommen. Aber das ist auch gut so, und wenn wir dann immer noch vier oder fünf mitnehmen und einfach da bleiben … Ich glaube, wenn wir darauf eingehen, dass es inszeniert ist, und dann resignieren, dann haben sie genau das …

Hengst: Nee nee: noch besser inszenieren, das isses! Der bessere Regisseur sein! (Geraune im Saal) Schönes Murren! Find ich gut.

Kleff: Wir gehen gleich auch hin zum Murren. Eine Frage hab ich noch in der Runde: Welche Rolle spielt Technologie in Bezug auf das Verhältnis von Musik und Politik? Auch da ein Rückgriff in die Geschichte. Heute findet ja Protest teilweise im Internet statt, dadurch dass man einen Brief mit unterschreibt, drückt auf den Knopf: Ja, ich protestiere auch, und damit hat man seine Seele, sein Gewissen beruhigt. Weil man ja unterschrieben hat. Aber man muss nicht mehr aus seinem Sessel raus und auf die Straße. Es gab Zeiten, wo es kein Twitter gab und kein Internet, da musste man auf die Straße, wenn man protestieren wollte, sich einsetzen wollte, und da war’s dann auch wichtig, dass man Lieder hatte, die man mitsingen konnte. Lieder wie We shall overcome gibt es eigentlich auch nicht mehr, neue! Die haben ja auch einen bestimmten Rhythmus, eine bestimmte Diktion, wo jeder mitsingen kann. Hat insofern die technologische Entwicklung da nicht auch eine große Rolle gespielt, was das Verhältnis von Musik und Politik betrifft? Weil ja auch eine gewisse Vereinzelung stattfindet?

Hengst: Hab ich jetzt nicht so richtig verstanden mit der Vereinzelung. Also auf den Demos, da läuft ja ganz viel Musik, auf den Wagen. Da läuft halt nicht mehr Pete Seeger, da läuft als anderes Klischee südamerikanische Musik oder Reggae – geht mir auch auf die Nerven, muss ich sagen. Also da muss man doch auch mal hinterfragen: Wieso hören die da immer nur dieselbe Musik? Genau wie früher Pete Seeger läuft heute halt das.

Kleff: Ja, aber es wird eben nicht mehr gesungen!

Hengst: Ach doch, da wird schon auch mitgesungen. Und dann laufen da natürlich immer noch Slime oder Ton Steine Scherben. Da wird schon mitgesungen. Nur, find ich, muss man halt genau wie bei allem anderen auch diese Form nochmal hinterfragen. Es gibt natürlich zu wenige Lieder, die andere Stilmittel benutzen. Oder wie seht ihr das? Auf Demos?

Yurtseven: Ja, Musik machen ist natürlich einfacher. Jeder Jugendliche sitzt an seinem Rechner und macht ’n Beat, und singt dazu, rappt dazu – gar nicht mit der Ambition, dass die Leute das mitsingen. Einfach erst mal: er will schreiben! Und das gab’s eben damals nicht. Es gab Bands wie Ton Steine Scherben – die waren eben die Aushängeschilder. Es gibt jetzt viel mehr Leute, die Musik machen können. Und ganz ehrlich: Ich find’s auch nicht so schlimm, wenn man mit ’’ner E-Mail seine Stimme für oder gegen was einsetzt. Es ist ein bisschen unfair, den Leuten in Dresden oder beim G 8 zu sagen, die stehen nicht auf! Es läuft ja parallel. Wir unterschreiben jetzt nicht mehr per Hand, sondern per E-Mail. Aber es gehen immer noch genug auf die Straße – es sind nie genug, es können immer mehr sein –, aber trotzdem gehen die Leute auf die Straße und erheben ihre Stimme und setzen Zeichen. Auch im E-Mail-Zeitalter klappt das immer noch gut.

* »Massiv« ist ein deutsch-palästinensischer, in Berlin lebender Rapper

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